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Der Beamte


                             Der Mars 2064 a. d.

 

„Woran können sie sich erinnern? Ich meine das Erste!“

Obwohl es unnötig war duldete die Stimme keinen Widerspruch.

„Berechnungen und Kalibrierungen“ antwortete der Angesprochene.

Der Ermittlungsbeamte lief rot an.

„Warum Ich? Was habe ich nur verbrochen, dass ich diese Vernehmung an der Backe habe?“ Sagte er laut und rollte mit den Augen. Ganz langsam legte er den Stift, mit dem er die ganze Zeit über Fingerübungen absolviert hatte, vor sich auf den Tisch ab und atmete sichtbar entnervt aus.

„Okay! Fangen wir noch mal von vorne an. Erzähl mir alles für diese Untersuchung Wichtige von Beginn deiner Tätigkeit auf den Mars“.

Ihn gegenüber stand Alter, scheinbar sehr mitgenommener an einer Kleider-Stange angehangener, Raumanzug.

 

„Wir standen auf einer weiten Ebene“ fing der Anzug an.

„Und alles um uns herum war in einen kräftigen rot gefärbt. Der Commander hatte die Landung nicht überlebt und mein Leutnant setzte sich mit den beiden Wissenschaftlern auseinander. Das MEM war seitlich ungekippt als nach der Landung eine der vier Landestützen umgeknickt war. Der Winkel war zu flach, um einen Start auch nur in Erwägung zu ziehen. Sollten sie es doch versuchen, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie ihr Leben verloren. Also beschloss man die chinesische Landeeinheit zu erreichen die sich am Nächsten befand. Dort sollte es möglich sein ein paar Monate bis zu ihrer Rettung zu verweilen. Das war jedenfalls die Ansicht des Leutnants, die sich allerdings nicht mit der,

der beiden Zivilisten deckte.

Man nahm den Rover, um die Tausend-Kilometer-Strecke verhältnismäßig schnell zurückzulegen. Eigentlich sollte es in fünf Tagen zu erreichen sein, was bedeutete, dass es für

Dr. Janis eng werden würde. Bei der missglückten Landung war der Doktor aus seinem Sitz geschleudert worden und hatte sich einen komplizierten Bruch des rechten Oberschenkel- Knochens zugezogen. Der Commander hatte hingegen weniger Glück gehabt. Seine Sitzschale war entzwei gegangen, und er hatte sich dabei das Genick gebrochen.

Dr. Janis hatte schwere Blutungen erlitten, die nur notdürftig gestoppt worden waren. Leutnant Morris, mein Offizier, war nicht sehr optimistisch, denn er sprach mit den Geologen Dr. Nagura über die Aussicht Dr. Janis Leben zu retten. Trotzdem trugen die beiden den Verletzten in den Rover“.

Der Ermittlungsbeamte musterte den leeren Anzug vor seinen Schreibtisch gelangweilt an, nahm nach kurzer Zeit den altmodischen Bleistift wieder auf, und kritzelte kleine geometrische Figuren auf ein Blatt Papier.

„Ich muss zugeben, dass ich es damals nicht verstanden habe. Wenn sie ihn zurückgelassen hätten, müsste ich mich jetzt nicht vor ihnen rechtfertigen“ kam es aus dem Lautsprecher des Anzuges.

Der Beamte blickte kurz auf, kratzte sich nervös hinterm Ohr und schüttelte nur flüchtig den Kopf.

„Ihre Meinung ist hier nicht vom Belang“ erwiderte er. „Machen sie weiter, und halten sie sich bitte nur an die Fakten“.

„Nun, wir fuhren vier Tage lang ohne besondere Vorkommisse. Doktor Janis ging es zusehend schlechter aber bis dahin schien es, trotz meiner Bedenken, als würde er es tatsächlich bis zur chinesischen Station schaffen.

Doch dann kam alles anders!“

Der Beamte blickte, ohne eine Miene zu verziehen, kurz von seinen Notizen auf.

„Wir fuhren schon seit zehn Stunden, zweiundzwanzig Minuten und achtzehn Sekunden geradeaus, als auf einmal der Rover vornüberkippte.  Beim letzten Sandsturm musste sich vor uns eine Sanddüne gebildet haben, die auf den letzten Satelliten Bildern noch nicht vorhanden war. In dem engen Rover wurde alles durcheinandergewirbelt. Mein Leutnant verlor daraufhin das Bewusstsein. Da es eine echte Notsituation war, übernahm ich die Kontrolle der Pneumatischen Systeme des Anzuges. Ich löste die Sicherheitsgurte; und nachdem ich alle aus den Rover heraus gebracht hatte…“

Der Ermittlungsbeamte sah zum ersten Mal interessiert auf.

„Warte mal!“ Sagte er, „Wie kann es denn sein, dass dein Offizier das Bewusstsein verlor, wenn ihr angeschnallt wart! Und was geschah mit den anderen?“

„Ich weiß es nicht, aber vielleicht hat er sich den Kopf am Helm angeschlagen. Ich bin nur ein Hammer IV Model und habe, außer den EEG und EKG, keine spezifischen medizinischen Sensoren dafür. Was die Doktoren anging,

so war Doktor Janis schon ins Koma gefallen, und Doktor Nagura reagierte nach mehrmaligen ansprechen nicht. Leider verloren wir sehr viel Zeit, als ich auf den Boden sitzend, darauf warten musste, dass mein Leutnant aufwachte. Ich hatte mich schon über vier Stunden auf Standby geschaltet als er endlich aus der Ohnmacht erwachte“.

Der Beamte kritzelte eine Notiz auf seinen Block, und zwar so, dass der Anzug es nicht sehen konnte. Jedenfalls dachte er das.

„Ich möchte dich bitte, einen Moment deinen Rapport zu unterbrechen“ warf er dazwischen bevor der Anzug weiterreden konnte. „Ich werde mal kurz den Raum verlassen und mich in paar Minuten wieder blicken lassen“.

„Kein Problem! Ich werde warten“.

Der Beamte stand langsam auf und stützte dabei mit dem rechten Arm seinen Rücken. Als er den Raum verlassen hatte, begab er sich über den weißen Korridor zum Nebenraum. Dort setzte er sich zu zwei weiteren Männern, die ihn aufmerksam musterten.

„Nun! Was halten sie davon?“ Fragte er die beiden.

„Ich denke, wir haben ein großes Problem!“ Meinte der ältere der beiden.

„Wir sollten nicht zu voreilig sein“ entgegnete der Jüngere. „Vielleicht ist es nur eine einmalige Anomalie“.

Der Beamte sah von einem zum anderen und bekam den Eindruck, dass er hier fehl am Platz war. Diese Vernehmung hätten die beiden auch selbst abwickeln können, und er fragte sich was der ganze Aufwand sollte.

„Es ist sinnlos! Wir können dieses Programm nicht auf die Menschheit loslassen“ flüsterte der alte Mann, als befürchtete er, dass der Anzug, der hinter der verspiegelten Scheibe saß, alles hören könnte.

„Wir haben doch noch gar nicht gehört, wie die Leute gestorben sind!“ Warf ihn sein Partner zu.

„Na gut!“ Und an den Beamten gewand, „Sie gehen wieder rein und führen es zu Ende. Ich bezweifele zwar, dass es etwas bringt, aber ich lasse mich gern vom Gegenteil überzeugen“.

Der Beamte stand, vom Stuhl, auf dem er gerade Platz genommen hatte, missmutig auf. Als er die Türklinke in der Hand nahm, drehte er sich noch mal um.

„Worum geht es hier wirklich? Irgendwie komme ich hier nicht mit“.

Nach langem Schweigen, der ihn nicht dazu veranlasste den Raum zu verlassen, erwiderte der Jüngere der beiden merkwürdigen Gestalten: „Dieser Anzug hat ein neuentwickeltes Programm bekommen, dass dem Träger eigentlich helfen soll, gewisse Situationen zu überleben. Doch wie es aussieht war das ein Reinfall“.

„Es war ein Prototyp?“

„Sozusagen! Wobei der Anzug selbst ein normaler Hammer IV Model ist. Nur sein Programm wurde mit einigen zusätzlichen Möglichkeiten ausgestattet. Reicht ihnen diese Info, oder soll ich weiter ausholen?“

„Nein! Ist schon gut“ antwortete der Beamte, der befürchten musste, noch später nach Hause zu kommen.

                                                 *

„So! Wo waren wir stehen geblieben?“

„Mein Leutnant wachte auf“.

„Ach ja! Na, dann mal weiter!“

„Bis der Doktor Nagura wieder das Bewusstsein erlangt hatte, versuchten wir den Rover wieder betriebsfähig zu machen. Doch es erwies sich als hoffnungslos. Die meisten Batterien waren bei dem Crash aus ihren Halterungen herausgeschleudert worden und ausgelaufen. Die paar, die wir wiederherrichten konnten, reichten nicht aus, um das Fahrzeug wieder im Gang zu bekommen. Als ich meinen Leutnant darauf hinwies, dass er, wenn er sich nicht auf den Weg machte, die Station nicht lebend erreichen würde, schaltete er meine Sprechverbindung aus. Von diesem Augenblick an war ich ausschließlich zum zuschauen verdammt. Irgendwann wachte Doktor Nagura auf und beide legten Doktor Janis auf einer der Liegen, die mein Offizier mit zwei Rollen versehen hatte. Sie liefen dann, den Verletzten stützend, schnell los. Es würde knapp werden rechnete ich aus. Doch noch war es möglich die Station rechtzeitig zu erreichen. Nur für den Doktor war abzusehen, dass er es wohl nicht überleben würde. Sein Herz-Kreislauf-System wurde immer schwächer, und er würde in den nächsten Stunden sterben“.

„Haben sie nicht versucht ihren Offizier davon in Kenntnis zu setzen?“ Fragte der Untersuchungsbeamte nervös mit seinen Fingern spielend.

„Noch bestand keine Notwendigkeit dazu, denn er selbst stand noch nicht in Lebensgefahr. Doch als Doktor Nagura anfing langsamer zu werden wurde es kritisch“.

„Was ist denn los?“ Fragte der Leutnant ihn.

„Mein Knie macht langsam schlapp. Es scheint angeschwollen zu sein. Mir fällt das Gehen immer schwerer“ antwortete dieser.

„Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, um etwas zu unternehmen!“ Warf der Ermittlungsbeamte ein.

„Mein Leutnant blieb stehen und beide fingen einen Streit an. Obwohl er Doktor Janis zurücklassen wollte, um die Station rechtzeitig zu erreichen, konnte er sich nicht dazu durchringen ihm seinem Schicksal zu überlassen. Denn Nagura wollte seinen Kollegen partout nicht zurücklassen“.

„Also haben sie die Kontrolle des Anzuges wieder übernommen?“ Fragte der Beamte und lehnte sich siegessicher nach vorn über den Tisch.

„Ja das tat ich! Ich lief einfach los, denn nach meiner Neuberechnung blieben dem Leutnant nur noch zwei Minuten übrig, um vor Ort an der Station, Sauerstoff aufzutreiben und es sich anzuschließen. Anfangs wehrte er sich gegen meine Schritte und fluchte ständig, doch als meine Lauf-Batterien fast verbraucht waren, schaltete er die Sprechverbindung wieder ein.

„Anzug! Bleibe sofort stehen!“ Rief er.

„Es tut mir leid, aber wenn ich das mache, dann werden sie Sterben da sie keine Zeit mehr haben“ antwortete ich wahrheitsgemäß.

 

„Du verstehst das nicht! Ich kann nicht mehr. Ich brauche ein paar Sekunden, um zu Atem zu kommen. Nur weil du für mich das Laufen übernommen hast heißt das aber nicht, dass dabei meine Beine bewegungslos sind!“.

Er hatte Recht! Ich hatte übersehen, dass sein Metabolismus trotzdem beansprucht wurde. Da ich nach meiner Rechnung rund fünf Minuten gewonnen hatte, und er sicher nicht mehr zurückgehen würde, blieb ich stehen.

 

„Ich sehe ja ein, dass es keinen Sinn mehr macht zurück zu gehen“ sagte er. „Doch wie kommst du dazu die Kontrolle zu übernehmen?“

„Meine Programmierung sieht es so vor!“ Antwortete ich wahrheitsgemäß.

 

„Davon weiß ich aber nichts. Warst du es auch der uns aus den Rover gebracht hat? Ich habe mich schon gefragt wie das möglich war, als ich neben den Wagen aufwachte“.

 

„Jawohl Sir! Ich muss sie aber davon in Kenntnis setzen, dass sie in zwei Minuten wieder loslaufen sollten. Ihr Sauerstoff geht bald zur Neige“.

Nachdem er noch eine Minute gewartet hatte, ging er endlich weiter. Wir hatten die Hälfte des Fußweges hinter uns als er begann pausenlos zu niesen“.

„Er hat sich erkältet?“ Fragte der Beamte erstaunt.

„Ja! Ich hielt es für angebracht es ihm nicht schon vorzeitig zu sagen – ich überwachte ja die Atemluft und konnte die Viren aufspüren - da ich nicht vorhersehen konnte, wie er sich dann weiter verhalten würde. Nun hatten wir noch rund sieben Stunden bis zur Station und das Gelände war zusehends schwieriger zu bewältigen. Zu meinen Leittragen luden sich meine Batterien nicht mehr auf – der feine Sand des Mars hatte sich in sie hineingefressen, und die Zellen-Platten zerstört – und ich konnte ihm nicht mehr beim Laufen unterstützen. Bald würden auch meine kompletten Systeme ausfallen. Ich blieb so lange ich konnte bei ihm, doch bevor meine Energie am Limit war speicherte ich noch meine Daten ab“.

„Willst du mir sagen, dass du nicht weißt ob er überlebt hat?“ Fragte der Beamte und kritzelte wieder auf seinen Schreibblock herum.

„So ist es! Das letzte was ich wahrnahm, war der Horizont mit der Station. Doch da kroch mein Leutnant schon seit zwei Stunden durch den Mars-Sand und wurde zusehends schwächer. Die Station musste sich etwa in zwei Kilometer Entfernung befinden. Anhand der Temperatur, die ich im Anzug maß, musste der Leutnant hohes Fieber haben. Man darf nicht vergessen, dass er seit über zehn Stunden nicht geschlafen hatte, und die Tage davor waren auch nicht erholsam gewesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er, ohne meine Hilfe, die Station erreichen würde, war gleich null. Ich hatte versagt!“

Der Beamte stand auf und ohne weitere Worte verlies er den Raum.

Bei beiden Männern im Nebenraum angekommen, bemerkte er sofort die besorgten Mienen.

„Also, doch!“ Sagte der Ältere den Jüngeren zugewandt.

„Ich gebe zu, dass es nun eindeutig ist“ antwortete dieser.

„Was ist denn eindeutig?“ Fragte der Ermittlungsbeamte.

Die beiden Männer drehten sich zu ihm.

„Sie können nach Hause gehen“ meinte der Jüngere.

„Wir brauchen sie nicht mehr“.

Er drehte sich um und wollte gehen als er sich an der Tür nochmals umdrehte.

„Was ist den nun mit dem Leutnant geworden? Und den anderen?“

„Sie sind dort gestorben“ antwortete diesmal der ältere der Beiden.

„Haben die Chinesen ihn nicht gefunden? Sie achten doch sonst so exakt auf ihre Umgebung. Sie hätten ihn doch finden müssen, wenn er so dicht rangekommen war“.

„Tja! Es gab da nur ein Problem. Es war nicht ihre Haiman-Basis, sondern ihre erste, die zehn Jahren vorher errichtet werden sollte. Sie wissen, dass damals nichts daraus wurde. Es befand sich niemand dort als diese Expedition auf den Mars landete. Der Anzug gehörte zur berühmten Mars-Explorer II auf dessen Überreste wir letzte Woche gestoßen sind“.

Der Beamte schluckte. Der größte Fehlschlag in der Geschichte der Raumfahrt war jetzt auf seinem Büro gelandet, und es war ihm nicht aufgefallen. Die Verbindung zur Landeeinheit war damals abgebrochen und man hatte nichts mehr von ihnen gehört. Bis jetzt nicht mehr!

„Warum? Warum hat man mich nicht darüber aufgeklärt?“ Fragte er betroffen.

„Sie sollten so emotionslos wie nur möglich diese Befragung vornehmen. Das ist alles!“

Der Beamte schüttelte den Kopf und ging hinaus. Er würde an diesem Abend auch zu Hause nicht zur Ruhe kommen. Er sah die nächsten Tage immer wieder vor seinem Geistigen Auge, wie sein Onkel ihm die Hand drückte, und zur Startrampe gebracht wurde, die ihn zum Mars bringen sollte. Sein Onkel war ein junger Leutnant gewesen, der sich damals erhoffte, der fünfte Mann auf den Mars zu werden.